· 

Abschweifungen

Am 26. Dezember sitzt er da. Die fünf Reihen hinter ihm sind frei. Auch davor ist alles sehr übersichtlich. Neun. Sie sind zu neunt – einschließlich Organist und Vertretungspastorin. Warum nur haben sie nicht wenigstens nach Heilig Abend die bewegliche Zwischenwand wieder geschlossen? Na ja, sie schaffen es ja nicht mal, dass in der Lokalzeitung die richtige Uhrzeit steht. Oft steht gar nichts drin. 

Sein Blick geht nach oben: Immerhin, alle Lampen haben wieder Leuchtmittel. Die Stimme der Predigerin ist warm, er hört sie gern. Etwas Mitleid fliegt ihn an, weil sie in einen nahezu leeren Kirchsaal schaut. Kurz trifft ihn ihr freundlicher Blick. 

Diese Stunde gehört ihm. Den guten Gesang der Gemeinde hat er immer schon gemocht. Selbst heute klingt er voll. Im Bass hört er Herrn Beyer, im Sopran die Pastorin, dazwischen kann auch er sich verkriechen. 

Er sieht die Kugeln am Weihnachtsbaum. Hatten sie jemals Kugeln? Sie hängen nur an den unteren Ästen, scheint eine Kinderbastelarbeit zu sein. Er nimmt im Geiste jede einzelne Kugel wieder ab. Vor ein paar Jahren stand mal eine mickrige Krippe auf einem traurigen Hocker neben dem Baum. Letztes Jahr war der Baum so riesig, dass er dem Prediger in die Quere kam. Dieses Jahr … Nun ja. Ist Ästhetik wirklich alles? Er will nicht kleinlich sein. Aber ohne Kugeln wär’s besser.

Die Predigt hüllt ihn ein, manchmal weiß er nicht genau, ob es ihre Stimme ist oder ihre Worte. Wo sind Kabels, wo das Ehepaar Funke? Wo die zehn, die er letztes Jahr in den Kirchenrat und die Gemeindevertretung gewählt hat? Wo sind Schmidts? Wo Frau Olshagen? Frau Meier hat er ewig nicht gesehen. Die Dame mit dem Hündchen kommt auch nicht mehr. Außer Beyers ist niemand mehr da vom harten Kern. Die „Getreuen“ hat er immer gewitzelt. Auch er ist allein gekommen. Letztes Jahr war noch sein Vater dabei. Frau und Sohn auch. Er fühlt sich etwas verloren.

Es ist seine Stunde. Er ist einer von neun. Er singt und lauscht und betet.